Kommentar
Die Bolivianische Strategie zur Reduktion der Armut enthält eine gute Analyse über die aktuelle Verbreitung der Armut im Lande. Allerdings fehlt eine differenzierte Untersuchung zu den Unterschieden zwischen Mann und Frau, Indígenas und Bauern, Stadt / Agglomeration und Land oder zwischen den verschiedenen geografischen Gebieten (Altiplano, Valle, Tropico).
So werden in der Analyse die ethnischen Gruppen als die Ärmsten und die am meisten Diskriminierten bezeichnet. Dabei wird übersehen, dass die Gleichsetzung von Lebensqualität mit einem bestimmten Dollarwert eine weitere Diskriminierung darstellt, da in keiner Weise auf die Lebensrealität dieser Menschen eingegangen wird. Die Lebensqualität vieler Indigena-Gemeinschaften (v.a. in den Tropen) hängt weniger vom Geldeinkommen als von Indikatoren wie Unversehrtheit der Natur (die durch Holzfirmen und Ölunternehmen stark gefährdet ist), kulturelle Identität oder Grad der Selbstversorgung ab.
Die Definition des Begriffs Armut ist sehr diffus und zählt einige ihrer Merkmale auf, ohne zwischen Ursachen und Folgen der Armut zu unterscheiden. Auch die Strategie selber gleicht mehr einer Aufzählung von wagen Absichten, als einem konsequenten Programm zur Reduzierung der Armut. Die Regierung beschreibt zwar des Breiten WAS sie alles unternehmen will, hingegen finden sich kaum Aussagen über das konkrete WIE, d.h. mit welchen Akteuren, in welchen Zeitabständen und mit was für materiellen und immateriellen Mitteln die vorgeschlagenen Aktivitäten durchgeführt werden sollen. Es ist aber offensichtlich, dass die aus dem Schuldenerlass zur Verfügung stehenden 105 Millionen pro Jahr nicht ausreichen werden, um all diese Massnahmen zu finanzieren. Allein für den Unterhalt der bestehenden Strassen (ohne Ausbau) rechnet die Regierung mit jährlichen Kosten von 40 Millionen Dollar.
Die Regierung betont in ihrer Strategie mehrmals, dass es nur ein Mittel gegen die Armut gibt, nämlich das ökonomische Wachstum. Sie rechnet vor, dass ein ökonomisches Wachstum von 1% die Armut um 0.6% vermindern wird. Nicht jedes Wachstumsmodell bewirkt hingegen eine Verminderung der Armut. So stellt die Regierung in ihrer Analyse selber fest, dass sich in den letzten Jahren die Schere zwischen arm und reich vergrössert hat. Das seit 15 Jahren geltende ökonomische Modell, nennen wir es ungezügelten Liberalismus, hat die Konzentration des Reichtums verschärft und keine Verteilung der Früchte des ökonomischen Wachstums bewirkt.
Die eigentlichen Adressaten dieser Strategie scheinen die reichen Länder des Nordens zu sein, welche im Gegenzug grosszügig Schulden erlassen. Der globalen politischen Grosswetterlage folgend wird das vorherrschende ökonomische Modell in keiner Weise angezweifelt und sind Massnahmen zur Umverteilung von Einkommen und Reichtum tabu.
Die Regierung folgt blind dem Modell des ungezügelten Liberalismus und vertraut noch vermehrt auf die Kräfte des freien Marktes. Der Ausbau des Strassennetzes soll zum Beispiel dank den Investitionen von privaten Unternehmen möglich sein. Hingegen wird nirgends erklärt, welche ökonomischen Anreize private Unternehmen haben könnten, um Strassen zu abgelegenen Dörfern zu bauen. Es sind aber gerade solche Nebenstrassen, die den Zugang der Kleinbauern zu Märkten und öffentlichen Dienstleistungen erleichtern und somit die Armut verringern helfen.
Die Regierung delegiert wichtige staatliche Aufgaben wie Erziehung, Gesundheit und Infrastruktur an die 314 Gemeinden im Land und nimmt damit eine wichtige Forderung des Nationalen Dialogs auf. Allerdings macht sie nur vage Aussagen darüber, wie die Gemeinden bei der Erfüllung dieser Aufgaben unterstützt werden sollen. Die Erfahrungen der letzten paar Jahre haben gezeigt, dass viele Gemeinderegierungen bereits mit den jetzigen Aufgaben völlig überfordert sind.
Die Delegierung von staatlichen Aufgaben bedeutet sicher nicht, dass sich die Regierung aus der Verantwortung stehlen kann. In vielen Bereichen sind nationale Politiken nötig, welche die Koordination und die Qualität von staatlichen Massnahmen garantieren. So macht es z. B. wenig Sinn, wenn eine Gemeinde den Ausbau der Milchwirtschaft in ihrem Gebiet fördert, die Regierung hingegen beschliesst, die Grenzen für den massiven Import von Milchprodukten zu öffnen. Die Strategie enthält keine Vorschläge über die Koordination zwischen Gemeinde und nationaler Politik.
Die Aufteilung der gesamten verfügbaren Ressourcen in kleine Beiträge an die Gemeinden hat den Nachteil, dass für grössere Investitionen, wie zum Beispiel ein nationales Programm zur Verbesserung der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, das Geld fehlen wird.
Die grösste Schwäche der vorliegenden Strategie zur Reduktion der Armut ist jedoch, dass bereits mehrere soziale Gruppen der Gesellschaft, inklusive Vertreter der katholischen Kirche, öffentlich ihre Enttäuschung darüber kundgetan haben, dass die Ergebnisse des Nationalen Dialogs kaum berücksichtigt wurden. Die Strategie verliert dadurch an Glaubwürdigkeit und Legitimität. Zahlreichen aktiven Mitgliedern der bolivianischen Gesellschaft wird wieder einmal unmissverständlich klargemacht, dass ihre Meinung, aller Rhetorik zum Trotz, nicht gefragt ist. Diese schmerzliche Erfahrung verschärft die bereits sehr hohe Frustration und Ablehnung gegenüber dem vorherrschenden politischen und ökonomischen System. Die Folge davon ist politische Abstinenz oder, was wahrscheinlicher ist, eine Zunahme der gewaltsamen sozialen Konflikte. So sind für diesen Monat bereits zahlreiche Protestmärsche, Streiks und Strassenblockaden angekündigt, während die Regierung im Gegenzug mit massiven Polizei- und Militäreinsätzen und gar der Ausrufung des Ausnahmezustandes droht.
Unter diesen Umständen scheint die Bolivianische Strategie zur Reduktion der Armut nicht viel mehr Wert zu sein, als das Papier, auf dem sie gedruckt ist.
(Quellen: Gobierno de Bolivia: Estrategia Boliviana de Reducción de la Pobreza (EBRP), diverse Zeitungsartikel, Notizen aus einem von der katholischen Kirche organisierten Seminar über die EBRP.
Unter http://www.vppfm.gov.bo/new/PaginasVPPFM/DialogoNacional.htm ist eine Zusammenfassung des Diálogo Nacional und der EBRP publiziert.)
daniel ott, la paz, april 2001
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